Donnerstag, 25. Februar 2010

Der Rabe

Lange noch saß er da und dachte nach.

Die Welt verlor sich weit unter ihm, irgendwo in den Tiefen der Häuserschluchten, und schien für eine Weile an Bedeutung eingebüßt zu haben. Der Wind verfing sich in seinem schwarzen Gefieder, doch besaß offensichtlich keinerlei Interesse daran, ihn von dem stählernen Geländer zu vertreiben, auf dem er sich niedergelassen hatte.

"Raben bringen Unglück.", hatte die Mutter ihrer Tochter erzählt, während er, nur anderthalb Meter entfernt, gerade die Reste eines Brötchens mit seinem Schnabel bearbeitete. Als sie sich näherten, war er weggehüpft. Nur ein wenig, damit er ihnen nicht im Weg stand.

'Quatsch.' hatte er gedacht. 'Raben bringen kein Unglück.'

Doch dann war das Mädchen auf dem Brötchenrest ausgerutscht, hingefallen, hatte geschrien und sich irgendetwas gebrochen. Raben hören gut und, wenn Knochen knacken, auch gern.

Er war weggeflogen, hierher, hatte sich auf das Geländer gesetzt und begonnen nachzudenken.
'Vielleicht bringen Raben ja wirklich Unglück.',dachte er und hätte am liebsten die Stirn gerunzelt.

Unterdessen begaben sich Mutter und Tochter zum Krankenhaus. Der Chirurg war freundlich und lächelte oft. Die Tochter bekam einen Gipsverband und die Mutter seine Telefonnummer. Zwei Jahre würden noch vergehen, bis die Mutter es wagen würde, sich neu zu binden, doch bis dahin - und natürlich auch danach - erlebte die Tochter Tage, Wochen, Monate voller Glück und Zufriedenheit. Später, als ihre Haare bereits ergraut und ihre Zähne längst nicht mehr die eigenen waren, erinnerte sie sich manchmal an den Brötchenrest und daran, dass im Augenblick des Sturzes ihr gesamtes Dasein in glücklichere Bahnen gelenkt worden war.

Der Rabe jedoch saß auf dem Geländer und dachte nach.
'Vielleicht bringen Raben ja wirklich Unglück.', dachte er, sah der Tochter und der Mutter nach, wie sie in Richtung Krankenhaus verschwanden, und seufzte.

Mittwoch, 24. Februar 2010

Umgezogen

"Ich bin umgezogen. Die alte Wohnung war mir zu teuer. Konnte ich mir nicht mehr leisten. Sicherlich, die neue ist etwas klein, fast schon winzig, aber dafür billig. Kostenlos eigentlich. Und irgendwer bringt mir immer was zu essen. Ist schon okay. Natürlich ist es meistens ziemlich kalt, doch wenn man die Tür aufmacht, geht es eigentlich. Oder man geht kurz hinter das Haus, dort ist es immer schön warm. Du hast recht: Die Wohnung ist auch recht dunkel, doch auch hier bitet das Öffnen der Eingangstür eine Lösung. Außerdem kann man dadurch nachts besser schlafen. Dabei hilft auch das monotone Brummen, das man ständig vernimmt, an das man sich aber nach einer Weile gewöhnt. Bin also ziemlich zufrieden mit der neuen Wohnung. Wie gesagt, ein wenig wärmer könnte es sein, aber trotzdem..."
"Verschwinde aus meinem Kühlschrank!"

Montag, 22. Februar 2010

Der Atmer

„Du kannst wirklich gut atmen.“, sagte ich zu ihm, und er grinste stolz. Ich bewunderte ihn, ihn, der es sogar jetzt, in diesem Augenblick, da er die Mundwinkel auf seinem gesamten Antlitz ausgebreitet hatte und seine wahrlich gut gepflegten Zähne präsentierte, während er mich also mit blitzendem Kauwerk und nicht minder, allerdings vor Stolz und nicht vor Reinheit, blitzenden Augen angrinste, schaffte, besser zu atmen, kunstvoller zu atmen, ästhetischer zu atmen, als irgendjemand, dem ich jemals in meinem gesamten Leben zuvor begegnet war.

„Dafür hast du bestimmt lange geübt.“, sagte ich zu ihm, doch er schüttelte den Kopf.
„Ja und nein.“, erklärte er, und zwischen den Silben, die sein Gesicht verließen, perlten die kostbaren Atemzüge hervor, deren Eleganz und Schönheit ich so bewunderte. „Es ist mir in die Wiege gelegt worden.“

Ich hörte ihm zu, doch eigentlich nicht ihm, nur seinen Lungen, nur seinen Lippen, die bei jedem Ein- und Ausstoßen von Luft ein wenig vibrierten, nur der winzigen Veränderung seiner Stimmlage, wenn sich die Meisterhaftigkeit seines Atmens zwischen das Erzählte drängte. Er berichtete von seinem Vater, der wohl keineswegs ein guter Atmer gewesen war, von seiner Mutter, die bereits im Kindbett verstarb, weil ihr das Pressen und Keuchen nicht bekommen war, von Küstenwinden, die stets guter Inspirationsquell gewesen waren, von langen Stunden unter Wasser, in denen er seine Technik zur Perfektion getrieben hatte, von langen Stunden in der Stille seiner Kammer, in denen er nichts weiter vernahm als das beglückende Geräusch perfekten Atmens.

Ein Künstler war er, das wusste ich, doch einer von jenen, die sich ihrer Fähigkeit bewusst waren, einer von denen, die sie nutzten, ausnutzten, um Leitern nach oben zu besteigen, Normales hinter sich zu lassen und sich der Unsterblichkeit zu widmen. Einer von jenen, die man im ersten Augenblick mit atemloser Bewunderung zu überhäufen sucht, deren Übermenschlichkeit jedoch im zweiten Moment zusammenfällt wie ein Kartenhaus, das einer lauen Brise ausgesetzt ward. Er erzählte, und mit jedem Wort ließ er das Bild, das seine Atemzüge in mir gezeichnet, hingehaucht hatten, weiter bröckeln, enttäuscht in sich zusammenfallen, begleitet von zierlichen Luftwirbeln, die nur noch begleitendes Beiwerk für ihn zu sein schienen.

„Und doch.“, unterbrach ich ihn, und für einen Sekundenbruchteil genoß ich die klare Pracht seines überraschten Einatmens, „Und doch ist alle Schönheit vergänglich, nichts wert, wenn sie überbordet, wenn sie jeden befüllt, jedem zugänglich ist. Nur was rar ist, kann dauerhaft Wert bewahren.“

So sprach ich und ging, ein wenig zögerlich, wollte ich doch noch ein wenig in der Nähe dieses kunstvollen Atmens verweilen, doch letztlich mit dem Wissen, einen Stein in Rollen gebracht zu haben.

Wenige Tage später fand man ihn in seinem Appartement in der Südstadt. Er sei erstickt, meinte der Gerichtsmediziner. Seit Tagen hätte er versucht, weniger und weniger zu atmen, sich seinen kostbaren Hauch aufzubewahren, ihn zur Seltenheit werden zu lassen, erklärten die Nachbarn.

Ich würde ihn nicht vergessen, den kunstvollsten Atmer der Welt, schwor ich mir und zündete mir eine Zigarette an.

Sonntag, 21. Februar 2010

Der Tiger

Der Tiger hatte keinen Namen. Er wohnte seit drei Wochen in meinem Treppenhaus und tat eigentlich nichts weiter als mich anzuschauen. Manchmal noch nicht einmal das.

Als ich ihm das erste Mal begegnet war, befand er sich an der Eingangstür. An jener Eingangstür, die ich als "meine" bezeichnete, die darauf wartete, dass ich meinen Haustürschlüssel in sie steckte, ihn drehte, sie beiseite schon und das Gebäude betrat. An jener Einganstür, hinter der sich eine Ansammlung verbeulter Briefkästen und zahlreicher Stufen befand. 103, um genau zu sein.

Ich betrachtete den Tiger, der vor der Eingangstür stand, als begehrte er Einlass, und sah mich um. Niemand war zu sehen. Kein schnauzbärtiger Dompteur, dem die Raubkatze entkommen sein konnte, keine mit Betäubunggewehren ausgestattete Jagdeinheit des Zoos, die hektisch jeden möglichen Skandal vermeiden wollend das entlaufene Tier wieder in seinen Käfig zu bringen versuchten. Niemand.

Der Tiger betrachtete mich, und ich lächelte dümmlich. Ich bin harmlos, wollte ich damit ausdrücken, bis mir klar wurde, dass ich mich gerade als Opfer präsentiert hatte. Doch der Tiger bewegte sich nicht, schien nicht willens zu sein, mich anzugreifen, die Krallen auszufahren und mir an den Hals zu fallen. Er drehte nur leicht den Kopf und blickte auf meine Hand. Besser: Auf die Schlüssel in meiner Hand.

Ich klapperte mit dem Schlüsselbund. Ich erwartete nicht, das stolze Tier damit erschrecken oder gar vertreiben zu können und war ein wenig überrascht, dass er tatsächlich ein wenig beiseite trat. Nicht weit genug, um keine Gefahr mehr darzustellen, doch immerhin weit genug, um mir Platz zu machen. Um mir Zugang zur Haustür zu gewähren.

"Nun gut.", sagte ich und klaubte alle Entschlossenheit aus meinem Herzen, die ich finden könnte. Probeweise klapperte ich noch einmal mit dem Schlüsselbund, doch der Tiger reagierte nicht.
"Nun gut.", sagte ich noch einmal und schloss die Tür auf.

Raschen Schrittes lief ich an den Briefkästen vorbei, hastete die 63 Stufen zu meiner Wohnung hinauf, schloss auch dort auf, warf mich hinter die Tür und knallte sie zu. Uff, dachte ich. Entkommen.

Von da an sah ich den Tiger täglich. Wenn ich arbeiten ging. Oder einkaufen. Wenn ich Freunde besuchte. Wenn ich den Müll wegbrachte. Er war immer da.

Nur selten sah ich ihn sich bewegen, doch seine Blicke folgten mir. Er beobachtete mich.

"Du musst doch Hunger haben.", meinte ich ein paar Tage später und stellte ihm einen Teller hin, auf dem sich zwei saftige RIndersteaks befanden. Der Tiger rührte sich nicht, schien mich gar zu ignorieren, doch als ich ein paar Stunden später nachschaute, war der Teller leer. Gut so, dachte ich und beschloss, in nächster Zeit mehr Fleisch zu kaufen.

Der Tiger hatte keinen Namen. Er wohnte in meinem Treppenhaus, und ich begegnete ihm täglich. Und auch wenn er sich kaum rührte, so glaubte ich doch, dass wir uns allmählich näher kamen.

"Du hast gar keinen Namen.", sagte ich also zu ihn, exakt drei Wochen, nachdem ich zum ersten Mal begegnet war. Er sah mich an, und man hätte ihn für ausgestopft halten könnten, wäre da nicht dieses wilde Funkeln in seinen Augen gewesen, dieses Feuer, das mir manchmal furchtsame Schauer über den Rücken jagte.

"Ich nenne dich einfach Peter.", sagte ich zu dem Tiger und wartete auf eine Reaktion.
"Peter.", wiederholte ich und grinste dümmlich.

Nach einer Weile erhob sich der Tiger, langsam, majestätisch, doch mit faszinierender Eleganz.
"Peter ist kein Name für einen Tiger.", brummte er und huschte die Treppen hinab.

Ich sah ihn nie wieder.

Freitag, 19. Februar 2010

Das Versprechen

"Darf ich einen Elefanten haben?"
"Einen Elefanten?"
"Ja, einen wundervollen, dicken Elefanten!"
"Aber..."
"Du hast gesagt, ich darf mir ein Haustier aussuchen!"
"Ja, ich weiß, aber..."
"Das hast du gesagt!"
"Ja, aber..."
"Du hast es versprochen!"
"Aber Elefanten sind doch viel zu groß, um Haustiere zu sein!"
"Sind sie nicht!"
"Doch, doch."
"Und wenn ich einen ganz kleinen Elefanten nehme?"
"Die gibt es nicht."
"Einen klitzekleinen Baby-Elefanten?"
"Auch Baby-Elefanten werden mal groß."
"Echt?"
"Ja."
"Aber du hast gesagt, ich darf ein Haustier haben!"
"Ja, einen Hund. Oder ein Kaninchen. Oder eine Katze."
"Keinen Elefanten?"
"Keinen Elefanten."
"Weil der so groß ist?"
"Ja, weil der so groß ist."
"Wie groß denn?"
"Naja, riesig eben."
"Wie riesig?"
"Viel zu groß für dich."
"Wie groß?"
"So groß wie ... wie ... wie ... wie ein Haus!"
"Wie ein Haus?"
"Mindestens!"
"Also ist es ja doch ein Haustier!"
"..."
"Und du hast gesagt, ich darf ein Haustier haben!"
"..."

Donnerstag, 18. Februar 2010

...

„ich bin noch immer voller worte.“, denke ich und verweile, für die dauer eines lächelns. dann findet mich mein atem, ich schließe die augen, und die welt rotiert ihres weges.
„warum nicht?“, denke ich und sehe meine füße schritte wagen. irgendwohin.

Mittwoch, 17. Februar 2010

Der Erfinder

"Ich bin Erfinder!"
"Das ist ja unglaublich!
"Naja..."
"Was erfinden Sie denn so?"
"Behauptungen."
"Was?"
"Behauptungen. Ich erfinde Behauptungen. Meistens völlig sinnlose Behauptungen. Welche, die offensichtlich falsch sind."
"Zum Beispiel?"
"Zum Beispiel stelle ich mich hin und behaupte, ich sei Erfinder."
"Is nicht wahr!"
"Doch!"
"Und was erfinden Sie so als Erfinder?"
"Äh... Behauptungen.
"Wie jetzt?"
"Behauptungen. Ich erfinde Behauptungen. Meistens völlig sinnlose Behauptungen. Welche, die offensichtlich falsch sind."
"Aber so etwas habe ich doch schon vor vierhunderzweiunddreißigeinhalb Jahren erfunden!"
"Ach so?"
"Ja."
"Okay."

Dienstag, 16. Februar 2010

Der Hase und der Igel

Der Hase, der einst einen Igel zum Wettlauf aufgefordert und aufgrund eines Tricks verloren hatte, war geflüchtet. Nicht, weil andere Waldbewohner ihn verspotteten oder der Igel ihn hämisch angrinste, sobald er ihn sah. Nein, Herr Igel selbst hatte gleich nach dem Wettlauf alle Zuschauer und Wettkämpfer zu sich eingeladen, wo Frau Igel, die Herrn Igel überraschend ähnlich, leckersten Tee und feinste Gebäck kredenzte.

Nein, der Hase war geflohen, weil er noch immer davon überzeugt war, der Schnellste zu sein. Und weil er es beweisen wollte. In diesem Wald würde niemand mehr mit ihm um die Wette laufen wollen. In diesem Wald lebten nur schleichend langsame Kreaturen, seiner beeindruckenden Lauffähigkeiten nicht würdig. Nein, dieser Wald war nicht länger sein Heim.

So floh der Hase, rasch, aber nicht hastig, und dennoch mit einer Geschwindigkeit, die ihn davon überzeugte: Ich bin der Schnellste. Der Allerschnellste!
Und so rannte der Hase über Wiesen und Felder, schlug Haken und labte sich an dem Wissen, dass niemand mit ihm mithalten konnte.

Eines Tages begegnete er einem Igel. Für einen Igel sah er allerdings recht komisch aus, und auch sein Akzent verunsicherte den Hasen ein wenig.
Ach was, wischte er alle Zweifel weg. Ein Igel ist ein Igel ist ein Igel, dachte er und forderte den Igel zum Wettlauf auf.

"Ich fordere dich zum Wettlauf auf.", rief der Hase dem Igel zu und freute sich, dass er so rasch Gelegenheit bekam, die vergangene Schmach auszulöschen. "Bis zu der alten Eiche dort drüben und zurück."
"Okay.", sagte der Igel.
Der Hase triumphierte innerlich. Dieser Igel sah nicht nur komisch, sondern auch langsam und dumm aus. Mit keinem Trick der Welt wäre dieser hässliche Igel imstande, ihn, den schnellsten Läufer aller Zeiten, zu besiegen.

"Auf die Plätze. Fertig. Los!", rief der Hase und rannte wie der Blitz davon.
Der Igel jedoch spreizte die Schwingen, erhob sich mit majestätischer Eleganz in die Lüfte und holte den vorlauten Hasen in Windeseile ein.
"Eagle, nicht Igel.", erklärte er mit vollem Schnabel, während er das pelzige Abendbrot in seinen Horst trug.

Montag, 15. Februar 2010

Die Maus und der Sperling

Eines Tages traf ein Sperling auf eine Maus, die sich gerade an einem Käse vergnüglich getan hatte und nun einen Verdauungsspaziergang einlegte. Die Maus piepste, der Sperling zwitscherte, und schon bald bemerkten die beiden, dass sie sich bestens verstanden. Sie gingen gemeinsam ein gutes Stück Weg, schwatzten und lachten, piepsten und zwitscherten, und fanden ineinander gute Freunde. Mit jedem Schritt vertiefte sich ihre Freundschaft, und so gingen sie weiter und weiter, zusammen und vergnügt.

Die Maus trippelte rasch, der Sperling jedoch, dem das Laufen und Hüpfen ein wenig schwerer fiel, musste hin und wieder innehalten und eine Pause einlegen. Die Maus lächelte dann und wartete geduldig, erzählte von Sonnenblumen oder Fellpflege, bis der Sperling seinen Atem wiedergefunden hatte und bereit war, noch ein wenig weiterzulaufen.

Und so liefen die beiden, so ungleich sie waren, mit höchster Freude stundenlang, tagelang, zusammen über Wiesen und Felder, erzählten einander von Träumen und Sorgen, von heiteren Momenten und großen Gefühlen. Oder sie schwiegen zusammen, und es war das köstlichste Schweigen der Welt.

Hin und wieder rasteten sie, nicht selten des Sperlings wegens, doch war jede Pause nur von kurzer Dauer, denn beide Wesen drängten darauf, weiter, immer weiter, zu laufen, zu trippeln und zu hüpfen.

Eines Tages gerieten die beiden an einen Abgrund.
"Hier endet der Weg.", piepste die Maus, denn obwohl sie sich gründlich umgesehen hatte, fand sie keinen Pfad, der beschreitbar gewesen wäre.
"Hier endet der Weg.", bestätigte der Sperling traurig tschilpend, und beide wussten, was das bedeutete.

Maus und Sperling schwiegen, und der Abgrund war ein dunkles Dröhnen in der Stille.

"Meine Füße sind längst wund.", flüsterte der Sperling. "Ich kann dich nicht länger begleiten, kann nicht zurück."
"Meine Flügel sind zu klein.", wisperte die Maus. "Ich kann dich nicht länger begleiten, kann nicht weiter."

Der Sperling nickte, spreizte seine Flatterflügel und erhob sich in die Wolken. Die Maus sah ihm nach, dann drehte sie sich um und huschte davon.

Und manchmal, an traurigen Tagen, blickt die Maus nach oben und schmunzelt. Und manchmal, in allzu stillen Stunden, schaut der Sperling nach unten und schmunzelt. Irgendwo dort gibt es einen Freund.

Sonntag, 14. Februar 2010

Lisa

Es gab kein Wetter, das ihm nicht behagte, keines, das imstande war, ihn zu vertreiben, ihn davon abhalten, seinen Stammplatz einzunehmen, jeden Morgen, pünktlich um 9.30 Uhr, dann, wenn die Geschäfte öffneten und Publikum herbeiströmen konnte. Es strömte nicht, das Publikum, denn er war nur ein Leierkastenspieler, ein alter noch dazu, der tagein tagaus an seinem antiquierten Apparat kurbelte und ihm Melodie für Melodie entlockte.

Hin und wieder gesellte sich eine ungewöhnliche Note in sein Spiel, ein metallischer Laut, der ein Lächeln des Dankes über sein verwittertes Antlitz ließ, einen lichtenen Schatten, der die Falten zu einem kurzen Lächeln sortierte und dann ebenso rasch verschwand, wie er gekommen war. „Danke.“, sagte der alte Mann dann, nickte dem Passanten, der im Vorübereilen die Münze fallen gelassen hatte, zu, und manchmal, nur manchmal, konnte man erkennen, dass der von wüstem Bartgeflecht umkränzten Mund nur noch wenige Zähne beherbergte. Doch zeigte er ein Lächeln, und schwand es noch so rasch dahin, so schien es, als flösse Güte aus ihm heraus, als hätte der alte Mann sich bewusst mit zahlreichen Zahnlücken bestückt, um der Herzenswärme, die in ihm brodelte, einen Ausweg zu schenken. Es gab nur wenige, die ihn tatsächlich jemals lächeln sahen, und Lisa gehörte zu ihnen.

Der alte Mann stand neben dem Denkmal, das Goethe oder Schiller oder irgendeinen Künstler darstellte, dessen Namen Lisa nie für wichtig erachtet hatte, stand dort, als hätte er sich selbst zum Denkmal erkoren, stand dort und kurbelte, in Regen und Schnee, in Nebel und Sonnenschein. Ton für Ton kroch aus seinem längst verblichenen Kasten, und Lisa blieb häufig stehen, um ihm zu lauschen, ihm, dem Leierkastenmann, ihm dem Verrückten mit dem Rauschbart.

In ihrem gesamten Leben, und das währte immerhin bereits neuneinhalb Jahre, hatte Lisa niemals so viele Runzeln und Haare in einem einzigen Gesicht gesehen. Und niemals hatte sie so schöne, so traurige Lieder gehört. Nein, nicht traurige, nur einsame, schwermütige, ergreifende.

Der Leierkasten selbst klang schrecklich, und wer nur hastig von einem Geschäft zum nächsten rannte, ertappte sich nicht selten dabei, wie er den alten Mann und seinen Lärm genervt ansah, als könnten ein Augenrollen und ein Seufzen ihn davon abhalten, seine Lieder zu spielen, ihn, der Sturm und Winden trotzte, ihn, der jeden Tag, pünktlich 9.30 Uhr seinen Leierkasten aufklappte und an der Kurbel zu drehen begann. Nein, der Kasten klang schrecklich, doch hinter den fahlen Tönen, die unsicher durch die Luft zu zittern schienen, schwebte eine zweite Melodie, eine, deren Zauber Lisa jedes Mal von neuem zu fesseln mochte, eine, die ihr, wenn sie nicht aufpasste, den Atem nahm.

Und so ertappte sich Lisa, wie sie dem alten Mann immer häufiger zuhörte, wie sie ihn beobachte, oft aus einem Versteck heraus, wie sie lächelte, wenn er lächelte, wie sie sich daran erfreute, dass er zu jedem Lied, das er spielte, die Worte zu kennen schien und manchmal lautlos mitsang. Der alte Mann, so wirr und verrückt erwirkte, so erbärmlich und mitleidserregend er aussah, wuchs ihr ans Herz. Vielleicht war es nur seine Musik, waren es die Lieder, die er spielte, die er Tag für Tag erkurbelte, die kippenden Klänge, hinter deren bröckeliger Fassade so viel mehr zu stecken schien.

Woran es auch lag; eines Tages jedenfalls fasste Lisa einen Entschluss: Nicht länger wollte sie in ihrem Versteck verweilen, nicht länger unbesehen den Klängen lauschen, nicht länger das Verhalten des Drehorgelspielers studieren, als wäre er ein Insekt unter dem Mikroskop. Nein, sie wollte Worte mit ihm wechseln, seinen Namen erfahren, wollte ihm sagen, wie schön seine Musik sei, vielleicht ein wenig zu ihr tanzen, zwei, drei Schritte nur, und dann wieder gehen. Vielleicht würde ihr Lächeln ihn finden und anstecken, vielleicht gar ein wenig auf seinen Lippen verweilen.

Tagelang zögerte sie, haderte sie mit sich selbst. Dann erwarb sie an einem der zahlreichen Blumenstände eine Tulpe, eine kleine, zierliche, fast kümmerliche, Tulpe, sonnengelb, unmittelbar vor vollständiger Blüte stehend und doch unscheinbar gegenüber ihren intensiver strahlenden, prächtigeren Brüdern und Schwestern. Lisa kaufte also die Blume, atmete tief durch und ging auf den Drehorgelspieler zu. Dieser leierte eine sehnsüchtige Melodie durch den Äther, und mit jedem Takt, so schien es ihr, wurden Lisas Beine schwerer und schwerer, mit jeder Note sank ihr Mut.

Doch dann stand sie vor ihm. Er sah sie nicht, starrte geistesabwesend ins Leere, und seine hellblauen Augen waren Meere der Traurigkeit. Nie hatte sie seine Augen bemerkt, stellte sie erstaunt fest. Passte man nicht auf, konnte man in ihnen ertrinken, dachte Lisa, und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie riss sich los, legte ihre Tulpe vorsichtig in die unförmige Mütze, die Tag für Tag auf dem Bordstein lag und Münzgeklimper erhoffte, und ging eilig davon. Ohne zu tanzen. Ohne zu lächeln. Ohne nach einem Namen gefragt zu haben. Ihre Beine wogen Tonnen, und auch ihr Gesicht war wie festgefroren. Nur weg hier!, war ihr einziger Gedanke, und sie ging, nein floh, weiter, ließ sich von den trüben Drehorgelklängen begleiten, umschmeicheln und spürte, wie mit jedem Meter, den sie sich von dem Alten entfernte, ihr Schritte behender, leichtfüßiger, wurden.

Dann verstummte die Musik. Plötzlich, überraschend, mitten im Lied. Lisa kannte dieses Lied, hatte es bereits mehrere Male vernommen, bildete sich gar insgeheim ein, mitsingen zu können, obwohl sie nie nur eine Zeile des Textes gehört hatte. Doch nun brach es ab, anderthalb Strophen und zwei Refrains vor dem Ende, mittendrin, als hätte jemand die Welt angehalten.

Und vielleicht war es genau das: Die Welt war stehengeblieben. Nur für sie, Lisa. Und für den alten Mann. Noch nie hatte er ein Lied unterbrochen, noch nicht einmal, als Jugendliche ihm eine Handvoll Münzen aus der Mütze gestohlen hatten und siegessicher grölend fortgerannt waren. Noch nicht einmal, als eine ältere Dame in herbstbraunem Faltenrock sich heiser ein bestimmtes Lied, möglicherweise aus ihrer Kindheit, gewünscht hatte. Noch nie.

Und jetzt war er verstummt. Die Drehorgelkurbel stach starr in den Himmel, und der alte Mann hielt die Tulpe in den Händen, schaute sie an, als fände er in ihr ein Eldorado. Oder ein Paradies. Er lächelte, und obwohl Lisa sich bereits zu weit von dem alten Mann entfernt hatte, spürte sie eine warme Woge ihre Sinne umgarnen, sie mit Liebreiz zu benetzen, als wäre die Wirklichkeit plötzlich ein winziges Stück, einen Millimeter nur, hin zum Sonnenlicht gerückt.

Lisa blieb stehen, spürte, dass auch ihre Mundwinkel nach oben geschwebt waren, dass sich auch auf ihrem Antlitz ein Lächeln eingenistet hatte, als wolle es dort für alle Zeiten bleiben. Der alte Mann blickte auf, drehte seinen Kopf und sah sie an. Mehr als zweihundert Meter trennten sie, und doch sah der Alte ihr in die Augen, und durch die Augen hindurch in ihren Kopf, in ihr Denken, in ihr Innerstes, in ihr Herz.
Das kann doch nicht sein!, dachte Lisa verwirrte und rannte davon.

Doch am nächsten Tag kam sie zurück. Und am übernächsten. Und am Tag darauf. Und jedesmal wenn sie glaubte, der Alte wäre tief in seine Musik versunken, warf sie eine kleine Blume in seine Mütze. Eine Rose, eine Narzisse, ein Gänseblümchen. Es spielte keine Rolle. Jede Blume war wunderschön in ihrer Hand, so wie jedes Lied des alten Mannes wunderschön war, hatte man einmal damit begonnen, hinter die Töne zu hören.

Und eines Tages lief sie nicht mehr fort. Sie warf eine weiße Nelke in die Mütze und blieb einfach stehen. Der alte Mann hörte auf zu drehen, warf einen Blick auf die Blume, trat hinter seinem Leierkasten hervor und bückte sich. Dann fiel sein Blick auf Lisa, auf Lisa, die lächelte, auf Lisa, die all ihren Mut aufbrachte und dem Alten in seine meeresblauen Augen sah. Auf Lisa, die tausend Fragen in sich fühlte, doch kein Wort herauszubringen vermochte. Auf Lisa, die sich befreite, die aus den Tiefen seiner Augen auftauchte, Luft holte und dennoch stehenblieb, dennoch nicht wegrannte.

Der Alte nickte, legte die Nelke vorsichtig auf seine Drehorgel und begann zu spielen. Ein altes Lied, das sich wohlig warm um Lisas Gedanken legte, das unendlich traurig und heiter zugleich zu sein schien, so voller Hoffnung, so voller Träume, so voller Sehnsucht, dass Lisa sich nicht länger imstande zu sein glaubte, die Tränen zurückzuhalten. Doch so fest sie auch ihre Lider schloss, der Fluss, der in ihr auszubrechen drohte, war unaufhaltsam. Silberne Perlen, dachte Lisa noch, als die erste Träne bereits unter ihrem Augenlid hervorschoss und ihre Wange hinabglitt. Doch bevor ihre Gefährten nacheilen und vielleicht sogar Taschentücher füllen konnten, änderte sich die Melodie.

Die Klänge, die dem alten Gerät entsprangen, wurden leichter, beschwingter, und wie von allein fanden Lisas Füße den Takt, ließen sich vom Rhythmus leiten und bewegten sich vergnügt aus dem grauen Asphalt. Lisa tanzte, ließ die Augen geschlossen und gab sich der Musik hin. Nicht lange, nur ein paar Augenblicke, doch genug, um den alten Mann lächeln zu lassen, genug, um sich wie in einem Traum zu fühlen, genug, um sich noch Stunden später, als Lisa längst heimgekehrt war und ihren Kopf in ein weiches Kissen gebettet hatte, zu fragen, was in diesem Moment geschehen war, welcher Zauber von ihr Besitz ergriffen hatte.

Am nächsten Tag kam sie zurück. Und auch am übernächsten. Hin und wieder tanzte sie, nicht lange, nur ein paar Schritte, doch Leute blieben stehen und sahen ihr zu, hörten vielleicht erstmals auf die Musik, die der alte Mann tagtäglich spielte. Und diese Musik war neu.

Waren die Lieder früher, nächtlichen Wogen gleich, mit trüber Schwermut durch Geist und Seele geflutet, hatten jeden Winkel des Denkens mit der bitteren Süße der Sehnsucht gefüllt und ungewisse Hoffnungen, warme, jedoch ungreifbare Erinnerungen hinterlassen, waren sie nun fast heiter, Gazellensprüngen ähnlich, wild und lieblich zugleich, wie Kirschblüten im Wirbel warmer Frühlingswinde. Die Lieder fanden Lisa und belebten sie, erheiterten sie, geleiteten sie zum Tanz, zu anmutiger Bewegung, und der alte Mann sah häufiger und häufiger auf und lächelte ihr zu, schenkte ihr Wärme, ermutigte sie zu weiteren Schritten, zu Wirbelhaaren und Gewänderrauschen, zu einem Lachen, das glockenhell die Musik zu vergolden schien.

Und doch fehlte etwas. Lisa bemerkte es nicht gleich, war viel zu sehr gefangen von den Klängen, von der Bewegung, vom Leuchten, das in ihrem Herz erwacht war, doch nach und nach, nach Tagen und Wochen, hielt sie plötzlich, mitten im Lied, so wie einst der alte Mann, inne.

Der Alte spielte weiter, ließ sich nicht beirren, hielt den Rhythmus, drehte an seiner Leier und ließ das Publikum schunkeln, mit den Klangwellen schaukeln. Doch Lisa stand still. Stand still und lauschte. Etwas fehlte.

Töne vibrierten durch den Äther, lockten ihre Füße, ihre Beine, zur Bewegung. Nein, dachte sie, und stand still.

Und dann hörte sie es, hörte sie das erbärmliche Seufzen der Drehorgel, das stete Quietschen der Leier, das Rattern im Inneren des hölzernen Kastens, die blassen Klänge, die sich aus dem Gerät stahlen und in die Ohren der Lauschenden setzten. Dies war nicht länger ihr Leierkastenmann, dies waren nicht länger die Melodien, hinter denen sich weitere, tiefere, richtigere, verbargen. Nein, dies waren Falschtöne, heitere Klänge auf die verzerrten Noten geklebt, frohsinniges Gedudel, das mit Wohltat lockte, das das Gemüt umschmeichelte, das die Köpfe im Takt nicken ließ. Dies war ein gleißendes Tönen, Schall mit unbeschwerter Süße, doch leerem Inneren. Die war nur Klang, nur Rausch, nicht mehr.

Wo war die Musik hinter der Musik? Wo waren die Worte, die sich wie von selbst in ihre Gedanken legten? Wo die Hoffnungen? Wo die Sehnsüchte? Wo, und das war vielleicht die bedeutsamste aller Fragen, wo war der Leierkastenmann, den sie einst gefunden hatte, jener, dessen Träume sie mitrissen, jener, dessen Schwermut so warm in ihr Gemüt gedrungen war?

Sie sah auf, blickte vorbei an verfilztem Bart und zahnlosem Mund, zu einem Lächeln verformt, das ihr zu gelten schien und doch nur ein Lächeln war, nicht mehr, blickte vorbei an den Furchen, in denen sich so viele Geschichten verbargen, blickte tief in die meeresblauen Augen und suchte.

„Das bist nicht du.“, sagte sie, und es waren die ersten Worte, die sie je an den alten Mann gerichtet hatte. Dann drehte sie sich um und ging.

Der alte Mann spielte weiter, doch seine Gedanken verweilten woanders, glitten ab vom dem Frohsinn, den sein Instrument verströmte und eilten hinter Lisa hinterher, hinter Lisa, deren Namen er nicht kannte, hinter Lisa, für deren Lächeln, für deren zaghaft tänzelnde Schritte auf grauem Asphalt, er jedes Lied, jeden Ton gespielt hätte, hinter Lisa, die nun ging, weil sie verstand.

Der alte Mann nickte langsam, spielte sein Lied zuende und nickte. Dann, als die nächste Melodie begann, wankte die Welt. Der Kasten knarrte unbekannte Klänge, und verwundert blinzelten die noch eben beschwingt schaukelnden Passanten, als hätte sie jemand eines Märchenschlafs beraubt. Blasse, farblose Töne quälten sich aus dem Gerät, während der Leierkastenmann kurbelte und drehte. Und mit jeder Drehung, mit jedem Takt, fand er ein Stück seiner selbst wieder, fand er die Worte, die zu den Liedern gehörten, die einst seinem Inneren entsprangen waren, fand er die Töne, die hinter den Tönen lagen, fand er die Klänge, die mehr waren als nur Klang.

Und irgendwo, nicht allzu weit entfernt, ging Lisa, lauschte der Sehnsucht, der Schönheit, die kaum hörbar an ihr Ohr, ihr Herz, drang, und wärmte sich an dem Lächeln, das, wie sie wusste, auf den bartumkränzten Lippen des alten Mannes lag.

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Hier wird es fortan weitergehen: https://morast .eu Und...
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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:01

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