Mittwoch, 8. Oktober 2008

Eine Elefantengeschichte (mit Happy End)

Der Elefant stand in Onkel Rudolfs Wohnzimmer und nieste. Er hatte sich erkältet, weil der Winter nahte und Onkel Rudolf dazu neigte, unbedingt bei offenem Fenster schlafen zu wollen. Außerdem war Onkel Rudolf vergesslich, und wenn er einmal ein Fenster geöffnet hatte, konnte man davon ausgehen, dass er vergessen würde, es wieder zu schließen.

'Elefanten', dachte der Elefant, der keinen Namen besaß, weil Onkel Rudolf vergessen hatte, ihm einen zu schenken, 'Elefanten leben normalerweise in wärmeren Gefilden.' Dann seufzte der Elefant und korrigierte die Rechtschreibfehler auf seinem Ohr.

Onkel Rudolfs Vergesslichkeit war nicht neu, hatte sich über die Jahre jedoch gesteigert. Bis ihm eines Tages eine geniale Idee kam: Elefanten besitzen angeblich ein gutes Gedächtnis. Wie wäre es, sich einen Elefanten ins Zimmer zu stellen, der sich an alles erinnert, was er selbst, also Onkel Rudolf, vergessen würde? Wie wäre es, das eigene Gedächtnis outzusourcen?

Gedacht, getan. Knapp zwei Wochen später stand ein wunderschöner afrikanischer Elefant in Rudolfs Wohnzimmer. Eigentlich hatte Onkel Rudolf ihn ins Arbeitszimmer stellen wollen, aber aus irgendeinem Grund war ihm das entfallen. Außerdem passte die graue Faltenhaut des Elefant gut zur lindgrünen Wohnzimmertapete.

Anfangs war alles gut. Onkel Rudolf sagte irgendetwas, und der Elefant merkte es sich. Onkel Rudolf bekam einen Arzttermin, der Elefant merkte ihn sich. Onkel Rudolf beschloss, am nächsten Morgen zeitig aufzustehen, und der Elefant ... nun ja, ihr wisst Bescheid. Blöd war nur, dass Onkel Rudolf vergessen hatte, Elefantisch zu lernen. Genauer gesagt hatte er vergessen, dass Elefanten zwar Menschisch verstehen, aber nicht sprechen können. Also merkte sich der Elefant allerhand Sachen, gab sie aber nicht wieder preis.

"Der Elefant ist ja zu gar nicht nütze!", schimpfte Onkel Rudolf, und der Elefant weinte. Onkel Rudolf war kein böser Mensch, und so entschuldigte er sich höflich beim Elefanten. "Dann benutze ich dich eben als Tafel. Genug Platz ist ja."

Gesagt, getan. Onkel Rudolf nahm seinen Elefanthaut-Beschreibstift, den er zufälligerweise in seiner Hemdtasche fand, und begann, fortan seine Termine auf den Körper des Elefanten zu krakeln. Auf die Ohren, auf den dicken Po, ja sogar auf die Stoßzähne. 'Das kitzelt!', dachte der Elefant vergnügt, wenn Onkel Rudolf wieder eine wichtige Notiz machte, und freute sich seines Daseins.

Eine Zeitlang ging alles gut. Der Elefant, der nicht nur Menschisch verstehen, sondern auch lesen konnte, stupste den vergesslichen Onkel Rudolf hin und wieder an und deutete mit seinem Rüssel auf irgendeine Stelle seines wuchtigen Körpers: "17 Uhr Zahnarzt", "Elefantenfutter kaufen" oder "Haare kämmen.". Und – schwupps – erinnerte sich Onkel Rudolf und ging zum Zahnarzt, in den Elefantenfuttersupermarkt oder zum nächstbesten Haarekämmer.

Leider war Onkel Rudolf wirklich vergesslich. Es fing damit an, dass er vergaß, am Morgen die Fenster zu schließen. Als nächstes vergaß er, sich Dinge, die er nicht vergessen wollte, aufzuschreiben. Der Elefant half, so gut er kann, indem er sich einfach selbst beschrieb. Doch dann vergaß Onkel Rudolf, dass er einen Elefanten besaß. "Was machst du denn hier?", fragte er, wenn er mal wieder gegen den im Wohnzimmer stehenden Elefanten rannte – und hatte im nächsten Augenblick sowohl seine Frage als auch den Elefanten vergessen.

Und so stand der vergessene, aber nicht vergessliche Elefant in Onkel Rudolfs Wohnzimmer und nieste. 'So kann das nicht weitergehen!', dachte er. 'Ich muss etwas unternehmen!' Er grübelte und grübelte, doch als Onkel Rudolf nach Hause kam, war ihm immer noch nichts eingefallen. Onkel Rudolf schien es eilig zu haben, denn wie ein Berserker stürmte er in die Wohnung, rannte in die Küche, dann ins Bad und anschließend ins Wohnzimmer. Genauer gesagt gegen den Elefanten. Noch genauer gesagt mitten in dessen dicken, nicht unbedingt wohlriechenden Po.

"Iiieh!", empörte er sich, befreite sich vom Elefantenhinterteil und sah zum Elefanten auf. "Was machst du denn ...", begann er, doch zuckte dann mit den Schultern und lächelte. Der Elefant wunderte sich: Hatte Onkel Rudolf nicht eigentlich vergessen, wie man lächelte? Doch es gab noch mehr zu wundern, denn Onkel Rudolf meinte plötzlich: "Ich habe dir ja noch gar keinen Namen gegeben! Wie konnte ich nur?! Am besten, ich nenne dich Peter!"

Der Elefant trompeterte vor Vergnügen. Onkel Rudolf hatte offensichtlich völlig vergessen, dass er vergesslich war. Was für ein wundervoller Name! Was für ein wundervoller Tag!

Montag, 6. Oktober 2008

Nicht sitzt mehr

Das Magdeburger Einkaufsparadies Allee-Center zelebriert derzeit sein zehnjähries Bestehen mit der Thematik "Casino". Dazu wurden vorab Spielgutscheine verteilt, die jetzt eingelöst werden können. Die Gänge sind bevölkert mit Schauspielern, die wohl reich, schön und adelig sein sollen, überall gibt es Glücksräder, Spieltische, Automaten und Gewinnversprechungen. Als Glücksspielvermeider laufe ich mit von Herzen kommendem Desinteresse an dem ganzen Trubel vorbei. doch kann mich plötzlich eines Lächelns nicht erwehren: Denn ausgerechnet dort, wo sich bis vor kurzem eine Reihe von massierfähigen Sesseln befunden hatte, genau dort, wo sich Einkaufende Rast suchend niedergelassen und wo sie aufatmend pausiert hatten, genau dort befindet sich jetzt die Bank.

Rupert

Rupert lehnte sich zurück und schaltete das Radio an. Denn genau das war es, was er jetzt brauchte: Eine Tasse heißen Pfefferminztee und ein wenig entpannende Musik aus dem Äther.

Doch anstelle angenehmer Klänge vernahm Rupert nur die monotone Stimme des Nachrichtensprechers: "... dass Manfred S. imstande sei, allein mittels seines Zeigefingers UKW-Radioprogramme zu empfangen..."

"So ein Unsinn!", empörte sich Rupert und schaltete seinen Daumen aus.

Sonntag, 5. Oktober 2008

Ein älteres Ehepaar

An irgendeiner Haltestelle in Magdeburg sitzend warte ich auf die Straßenbahn. Angeblich verbringt man fünf Jahre seines Lebens allein mit Warten, und ich beschließe, mein Warten nicht als Warten, sondern als Lesen zu definieren. Ich sitze also lesend an irgendeiner Haltestelle in Magdeburg, als sich ein älteres Ehepaar zu mir gesellt. Sie unterhalten sich, beziehungsweise sie imitieren eine Unterhaltung, denn in Wirklichkeit lästern sie. Ich weiß nicht, um wen es geht, doch als eine dicke Frau an uns vorbeiläuft, deren Antlitz große Ähnlichkeiten mit dem Jabba the Hutts aufweist, schweigen sie kurz, lassen sie passieren, blicken ihr hinterher und reden dann weiter. Ich höre etwas von Scheidung und denke "Schhhhh...!", denn ihr Versuch zu flüstern ist tatsächlich nur ein Versuch. Insbesondere der ältere Herr mit seiner tiefen Brummstimme scheint außerstande zu sein, dezibelarme Worte von sich zu geben, ist sich jedoch dessen nicht bewusst. Die dicke Frau verzieht das ohnehin verzogene Gesicht noch ein wenig mehr und geht wie zufällig noch ein paar Schritte weiter. Das ältere Ehepaar lässt sich nicht irritieren. Scheidung, jaja, Scheidung. Ja, die ist geschieden. Ich lese.

Zwar bin ich Freund des Straßenbahnfahrens, aber Haltestellen mag ich nicht. Ich mag nicht die stählernen Bänke, die niemals bequem und meistens zu kalt sind, mag nicht die rauchenden Mitwartenden, mag nicht, immer wieder aufzusehen, ob denn meine Bahn bereits eingetroffen ist. Diese Haltestelle ist besonders schlimm, denn ihr Blickfeld ist immens. Ohne große Schwierigkeiten kann ich eine Straßenbahn erkennen, wenn sie noch zwei Haltestellen von mir entfernt ist. Wenn ich also keine Straßenbahn sehe, heißt das, dass ich mich nicht nur ein bisschen, sondern noch eine geraume Weile zu gedulden habe. Das stört mich, und ich wehre mich gegen die Versuchung, hin und wieder die Gleise nach einer sich nähernden Bahn zu prüfen. Ich presse meine Blicke in mein Buch und versuche, die Außenwelt draußen zu lassen.

Als eine Bahn sich nähert, beginnt die Diskussion. "Die nützt uns nichts." "Nein, die biegt doch ab." "Nee, die fährt doch da lang." "Wir nehmen die nächste." "Die hier bringt uns ja gar nichts." Die beiden Rentner sind derselben Meinung, doch ihr Tonfall lässt das nicht erahnen. Gespannt erwarte ich eine Eskalation des "Streits", aber als die Bahn unbestiegen davonfährt, schweigt das Paar. Schließlich ist auch die Jabba-Frau verschwunden. Der Mann setzt eine Miene auf, die zeigt, dass er sowieso die ganze Zeit Recht gehabt hat und dennoch großmütig die Meinung seiner Frau akzeptiert. Die Frau starrt in die Richtung, aus der die nächste Bahn kommen wird.

"Ist sie das?", höre ich sie nach einer Weile fragen. "Ja. Nee.", antwortet ihr Mann und versucht, die Straßenbahn in der Ferne zu orten. Der Himmel ist grau, und die Bahn ebenso. "Die erkennt man ja gar nicht.", beschwert sich der Mann. "Normalerweise sind die hell.", fällt die Frau in denselben Meckertonfall ein. "Bei dem Wetter sieht man die überhaupt nicht.", ergänzt der Mann, und ich seufze innerlich.

Als die graue Straßenbahn an der Haltestelle einfährt, ist sie ziemlich gut sichtbar. Gut genug jedenfalls, um einzusteigen.

Freitag, 3. Oktober 2008

Die Welt war blau und lachte

Der folgende Text passt stilistisch in die Rubrik "Morning Pages", formal allerdings nicht. Trotzdem.

Die Welt war blau und lachte.

Natürlich war die Welt nicht wirklich blau, doch ein kurzer Besuch in einem der unzähligen Souvenirläden hatte die Welt verändert. Felix grinste. Die Welt verändert. Wie das klang. Dabei hatte er sich nur eine Sonnenbrille besorgt. Eine billige Sonnenbrille mit blauen Gläsern. Weder sonderlich hübsch noch sonderlich nutzvoll. Und doch...

Felix lachte. Wenn Felix lachte, hatte es für ihn stets den Anschein, als hielte die Welt kurz inne. Als lachte sie mit ihm.
Die Welt war blau und lachte.

Felix stieg auf sein rostiges Damenrad und fuhr die Strandpromenade entlang. Es war Zeit gewesen, dachte er, während er durch blaue Gläser auf das blaue Meer blickte, den klaren, blauen Himmel betrachtete, während er sich zwischen den herumschlendernden Menschen hindurchschlängelte, als hätte er sein Lebtag dafür geübt. Hin und wieder schenkte man ihm einen verwunderten Blick, doch hier in der Touristenhochburg war man Absonderlichkeiten gewöhnt. Auch blaue Sonnenbrillen.

Felix fuhr weiter. Sein Fahrrad quietschte, doch er verschwendete keinen Gedanken an eine Reparatur. Er hatte ihn sich verdient, seinen Urlaub. Wen kümmerte da ein klappriges Fahrrad? Und überhaupt: Monochromatisch betrachtet waren die zahlreichen Rostflecken an Rahmen und Kette, an Lenker und Zahnrädern nur sonderbare Blüten blauer Merkwürdigkeit. Felix lachte erneut. Durch die Brille betrachtet wirkte die Welt in ihren Blauschattierungen noch fremder, noch neuer, noch vielseitiger als ohnehin schon. Wie angenehm es sein würde, in den nächsten Tagen, Wochen, durch die Straßen zu streifen und jedes noch so blaue Detail zu betrachten, neu zu entdecken. Blaue Menschen, blaue Häuser, blauer Sand.

Irgendwo erklangen Rufe. "Da ist er ja!" Stimmen näherten sich. "Da, auf dem Damenrad!"
Felix sah sich um. Der Direktor!

Felix trat in die Pedale. Schneller, schneller! Sein klapperndes, quietschendes Rad raste durch die verschreckt beiseite springenden Menschengruppen. "Platz da!" wollte er rufen, doch seinem Mund entsprangen nur unverständliche Laute. Die Sonnenbrille glitt von seinem unörmigen Schädel und zerbrach auf dem Asphalt. Felix schenkte ihr keine Beachtung. Die Welt war bunt, und Felix strampelte, als ginge es um sein Leben, trat in die Pedalen, brachte Meter für Meter zwischen sich und seine Verfolger.

Für einen Zirkusaffen war er ziemlich schnell.

--
[Text als mp3 [2,8 mb]]

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Catcontentcartoon

Samstag, 27. September 2008

Kleiner Drache

Zwischendurch mal wieder was Dahingekrakeltes, Buntes...

Donnerstag, 25. September 2008

Warum 30 Reinhörsekunden zu wenig sind

Natürlich heißen Plattenläden nicht Plattenläden und bieten zudem ein reiches Spektrum an Technischem und Tonträgerischem an. Und natürlich kaufe ich keine Schallplatten, besitze sogar nur eine einzige Platte, die ich noch nicht einmal in einem Laden erwarb. Und dennoch: Ich liebe Plattenläden. Bin ich eigentlich aufgebrochen, um beispielsweise eine neue Hose zu erwerben, so endet ein Einkauf nicht selten mit dem aktuellen Album einer von mir favorisierten Musikgruppe in meinem Rucksack und einem Gesicht, das innige Begeisterung verheißt.

Im Jahre 2001 besuchte ich Karstadt, und obgleich es meiner Begleiterin C überhaupt nicht passte, dass ich, den Tontäger einer mir unbekannten Musikgruppe hochhaltend, zum Anhörpunkt strebte, ließ sie mich gewähren. Die CD wurde ihrer Folie beraubt und eingelegt. Gitarrenklänge. Langsam versank ich in dem ruhigen, fast monotonen Solo, das mich mit hintergründigem Regenrauschen allmählich in süßtrübe Gefilde zog. Nach über zwei Minuten klaren Gitarrenklimperns schwankte die Simmung. Kein Geklimper mehr, sondern hartes Gitarrenprasseln. Gesang setzte ein, angenehm ruhig, im Kontrast zur Härte des Klangteppichs. Was war das nur für eine Band?, dachte ich begeisert? Wieso hatte ich nie zuvor von ihr gehört?

Nach der vierten Minute erfolgte erneut ein Wechsel, unerwartet plötzlich. Der Gesang wurde zum tiefstimmigen Gegrunze, zu heftig für mich, der eben noch verträumter Quasimelancholie hinterhergeschwelgt war. Gegrunze, Gekreische. C schaute bereits ungeduldig. Ich brach ab, vergaß Band und Musikstück, vergaß, dass ich anfangs in totaler Begeisterung geschwebt hatte, und ging.

Wochen später entdeckte ich im Saturn dieselbe CD. Diesmal war ich allein, besaß alle Zeit der Welt. Und plötzlich tauchte auch die Erinnerung wieder auf: Leichtes Gitarrenspiel mit Regenschauern. Allmählich härter werdend. Gesang. Und dann. Gegrunze.

Als Freund metallischer Klänge war mir Grunzgesang eigentlich nichts Neues, und längst hatte ich Gefallen gefunden an dieser Art der Vokalisierung. Plötzlich konnte ich nicht mehr verstehen, warum mich dieser eine Song so überrascht, der Kontrast zwischen Gesang und Gebrüll mich so überlastet hatte. Ein zweiter Reinhörversuch konnte nicht schaden.

Wieder der Regen, wieder die Gitarre. Ich tauchte ab, und Gänsehaut formte sich auf meinem Rücken. Die Gitarrenhärte wuchs. Da! Gegrunze! Neugierig folgte ich dem Sänger auf seinen Wortpfaden, las den schwermütig-wilden Text, begann, im Rhythmus der Gitarren mit dem Schädel zu nicken. Warum nur hatte ich damals abgebrochen? Das war genial!
Mehr als neun Minuten lang umhüllten mich Klang und Wut, Trauer und Schönheit. Ich grinste. Mehr ließ meine Begeisterung nicht zu.

Als der zweite Song anbrach, atmete ich kurz auf. Ich war zurückgekehrt, befand mich auf den altbekannten Pfaden des Reinhörens. Und wusste längst, dass ich dieses Album kaufen würde.

Zehn Minuten später hatte ich den Laden verlassen, zufrieden lächelnd, mit "The Dreadful Hours" in meinem Rucksack und dem Wissen, in My Dying Bride eine baldige Lieblingsband entdeckt zu haben. Eine Hose kaufte ich auch an jenem Tag nicht.

Donnerstag, 18. September 2008

"Finden Sie das etwa lustig?"

Gestern sah ich ihn erneut. Vermutlich hätte ich ihn gar nicht bemerkt, nicht auf ihn geachtet, meinem Blick nicht von den Zeilen meines Buches abschweifen lassen, wäre hinter mir nicht eine Stimme laut geworden. "Finden Sie das etwa lustig?", fragte eine entrüstete ältere Dame, und ich gehe nicht zuweit, wenn ich ihren Tonfall als Keifen bezeichne. "Finden Sie das etwa lustig?", keifte sie also und ergänzte, die Nase in die Luft schraubend: "Ich [betonenden Pause] nämlich nicht."

Ich blickte mich um, und erfasste die Situation sofort. Draußen, vor den Scheiben unserer Straßenbahn, gab der offensichtlich geistig zurückgebliebene Junge, der mir mittlerweile vertraut und sympathisch geworden war, wieder einmal sein Ständchen. Er sang, auch wenn wir es kaum hörten, und wippte dazu mit seinem gesamten Leib vor und zurück. Und anscheinend hatte es irgendwer unweit der sich entrüstenden Dame gewagt zu kichern. Oder zu schmunzeln. Über das Gebaren eines behinderten Jungen. Oweia!

Die Angesprochene stotterte eine Entschuldigung zurecht, irgendetwas mit "Nein ... nicht lustig ... es ist nur ... wir kennen ihn ja ...". Die alte Dame, die sich so echauffiert hatte, reagierte nicht und starrte ins Leere.

"Finden Sie das etwa lustig?", hallte es in mir nach, und ich befragte mich selber: Fand ich den anscheinend zurückgebliebenen Jungen, der Liedtexte, die er nicht verstand, in unüberhörbarer Lautsträke sang, während er rhythmisch vor und zurückwippte und sein Hund reglos danebensaß, lustig? Amüsierte ich mich, wenn meine Straßenbahn in den Magdeburger Damaschkeplatz einfuhr und ich ihn entdeckte, sah, wie er offensichtlich vergnügt Lieder zum Besten gab, die ich nicht zu erkennen vermochte, egal, ob sie nun ursprünglich deutsch- oder englischsprachig waren? Fand ich das etwa lustig?

Ich fand. Und zugleich glaubte, ich das Recht zu haben, ihn lustig zu finden. Denn ich mochte, was er tat, mochte, wie er den öden Damschkeplatz mit seiner Präsenz befüllte und mit seinen musikähnlichen Lauten beschallte, freute mich aufrichtig jedesmal, wenn ich ihn sah. Ich fand ihn lustig, aber nicht, weil ich mich über ihn lustig machte, nicht, weil ich darüber lächelte, wie dumm dieser Kerl doch sei, wie wenig er von seiner Außenwelt zu begreifen schien.

Die alte Dame hat Unrecht, fand ich. Denn weder ich noch viele andere in der Straßenbahn Sitzende wären imstande gewesen, ihr Lächeln zu unterdrücken, und es gehörte schon ein gehöriges Maß an Bitterkeit und Ignoranz dazu, die primitive Schönheit zu verkennen, die in der Sangesdarbietung lag. Jemand sang, nicht gut, aber offensichtlich zu seiner eigenen Zufriedenheit. Und niemand störte sich daran.

Hinzu kam, dass nicht nur es Freude war, die aus den Augen der Beschauer sproß. Zugleich entdeckte ich Ver- und Bewunderung, Sorge und Mitgefühl. Ich konnte die Gedanken hören, die sich um das sicherlich sonderbare Schicksal des Jungen kreisten, konnte die Fragen vernehmen, die dessen Präsenz verursachte. Und doch lächelten wir. "Finden Sie das etwa lustig?", schallte es durch meinen Schädel, und ich nickte. Ja, trotz allem fand ich den Jungen lustig.

Es gibt eine Grenze, dachte ich. An irgendeinem Punkt hört die Freude über das sonderbare Verhalten des Jungen auf und verwandelt sich in Hohn. Ab irgendeinem Punkt ist das Lustig-Finden tatsächlich falsch. Diese Grenze nicht zu überschreiten, ist schwer, vielleicht unmöglich. Allein durch mein permanentes Starren wertete ich den Wippenden ab, degradierte ihn zu einem Faszinosum, das es wert war, begafft zu werden. Doch andererseits ist der Versuch, das Starren zu verbieten, zu verhindern, gleichsam ungut, enthielte er doch ein Verleugnen der eigenen Neugier und die Ignoranz des Offensichtlichen.

Tatsächlich fiele es mir schwer, nicht zu schmunzeln angesichts des damaschkeplatzigen Anblicks. Und ich glaube, solange dieses Schmunzeln auf Sympathie, auf aufrichtiger Freude, beruht, solange es sorgende Hintergedanken mit sich trägt, solange es nicht in Häme und abwertendes Gebahren mündet, solange ich in dem Darbieter keine Witzfigur, kein niederes Wesen, sehe, solange darf ich es auch beibehalten.

Die kraftlose Antwort der mit Vorwürfen Bestückten war ohne Wert. Doch die Vorwürfe der entrüsteten Dame umso mehr. Bloß weil jemand Mitleid erregt, muss ich nicht in Trübsinn schwelgen. Denn nicht alles Traurige ist frei von Witz, und nicht jeder Witz frei von Trauer.

Mittwoch, 17. September 2008

Metallica ist scheiße

Ich habe zu spät zu Metallica gefunden, und ich vermute, es war noch nicht einmal meine Schuld. Schuld sind meine Eltern, die mich zu spät gebaren, denn als ich mich ernsthaft für gitarrenbestückte Klänge zu interessieren begann, waren Metallicas Hoch-Zeiten längst vorbei.
Angeblich kann man das gesamte 90er-Jahre-Werk der Band in jene Tonne werfen, auf der Drummer Lars Ulrich bei "St.Anger" dauerhaft herumzukloppen scheint, doch meine erste Intensiverfahrung mit Metallica war "Reload" (1997). Ich hatte schon immer Respekt vor Bands, die bereits länger existierten, als ich - im wahrsten Sinne des Wortes - zu denken imstande war, und hätte mich vermutlich auch nicht an Metallica gewagt, wenn nicht mein jüngerer Bruder das "Reload"-Album angeschleppt und wiederholt in den Player geworfen hätte. Meine Abstandssuche wandelte sich zu Neugierde und schließlich zu Gefallen, denn tatsächlich mochte ich "Reload" und würde es mir - auch wenn jeder meint, es sei mit unglaublicher Schlechtigkeit besudelt - wohl auch heute noch einmal anhören -- wenn Metallica nicht so scheiße wäre.

Nach "Reload" kamen "Load" und das "Justice"-Werk, das ja mit endloser Genialität behaftet sein soll. Ich entlieh die CDs der heimischen Stadtbibliothek, konnte aber keinen Weg zu ihnen finden. Sicherlich, irgendwo befand sich "The Unforgiven", das mich interessierte, weil dessen zweiter Teil mir gefiel, doch könnte ich heute keinen einzigen Titel nennen, der sich auf den beiden Alben befand. Das schwarze Album habe ich vermutlich bis heute nicht komplett durchgehört - und mein diesbezüglicher Willen ist minimal. Schließlich ist Metallica scheiße.

Ich kann mich erinnern, dass ich eigens für das mit Spannung erwartete "S&M"-Album am ersten Verkaufstag in den Laden rannte und mindesten 20 Minuten lang ununterbrochen "reinhörte". Zwar beschlich mich das Gefühl, dass jeder einzelne Song mit Weichspüler behandelt worden war, doch kaufte das Doppelalbum trotzdem. Vielleicht ließ sich ja irgendwo ein bisschen Härte entdeckten. Doch das als Single ausgekoppelte, verwässerte "Nothing else matters" ging mir ebenso bald auf den Nerv wie der Rest des Albums, und ich begann, mich von der Band abzuwenden. "Fuel" blieb mir positiv in Erinnerung, weil ich mich jedesmal, wenn James Hetfield "Gimme fuel / Gimme fire / Gimme that which I desire" schrie, im Auto befand und gerade durch eine 30er-Zone schlich. Mein Bruder kaufte "Garage Inc.", das ich von vorneherein ablehnte, weil ich mich veralbert fühlte, von einer achsogroßen Band ausschließlich Coversongs vorgesetzt zubekommen. Dass die mit dem mir nicht wirklich zusagenden Film "Mission Impossible" erscheinende Maxi "I disappear" komplett in Schwarz gehalten war, fand ich zwar beeindruckend, doch konnte es mein zunehmendes Desinteresse nicht aufhalten. Metallica ist eigentlich scheiße, dachte ich irgendwann.

Danach erfolgte eine lange Pause. Mich hatte der ganze Besetzungskram der Band, ihre Drogen- und Alkoholprobleme und alles, was damit zu tun hatte, nie interessiert, und so verfolgte ich auch nicht, was über die Jahre geschah. Mein Musikgeschmack blieb dem Metallischen treu, und auch wenn ich mich im Besitz eines Aufnähers mit Metallica-Bandlogo befand, hörte ich nur noch hin und wieder in "Reloaded" rein. Wenn überhaupt.
"St. Anger" nervte mich von Anfang an. Der neue Bassist, der auf der Bühne selbst bei den ruhigsten Passagen wild herumhampelte, die Medieneuphorie, die im Video aufgegriffene Gefängnisthemaik, der Sound - all das ließ mich maximal skeptisch blicken. Meine Metallica-Zeit war vorbei. Irgendwann hörte ich das Album tatsächlich durch, einmal, zweimal, machte mich über die Drums lustig, und das war's. Metallica sind scheiße, beschloss ich.

Dass Onkel Ulrich Napster verklagte, interessierte mich nicht. "Some kind of monster" interessierte mich nicht. Metallica war scheiße. Punkt.

Wenn man von einigen Liedern des Reloaded-Albums absah, war Metallica für mich ständig nur Mittelmaß gewesen, allerdings ein Mittelmaß, das von allen so sehr zum "Kult" hochgejubelt worden war, dass ich schwerlich etwas dagegen sagen konnte. Ich mochte Metal, doch jemand, der Metallica mochte, folgte in meinem Augen nur dem Trend der allgemeinen Hochjubelei. Vielleicht hatte es einst eine Metallica-Hyperzeit gegeben, doch der Großteil der "in meiner Zeit" erscheinenen Werke rechtfertigten keinen Hype. Metallica hatte einen Namen, mehr nicht, und ich hörte lieber andere Bands, vielleicht weniger bekannt, dafür mehr meinem Geschmack entsprechend. Wenn ich Metallica fortan scheiße fand, dachte ich, würde ich dem unnützen Hype entgehen und trotzdem nichts verpassen.

Unlängst nun erschien "Death Magnetic". Irgendwer fand den Titel bescheuert, was ich wiederum bescheuert fand. Plötzlich war Metallica wieder in aller Munde und selbst der mir unsympathische, eigentlich Alternativmusik hörende Jan Wigger von SpOn hat sich dazu hinreißen lassen, eine Rezension zu verfassen, nach deren Lektüre ich nur wusste, dass die Titel überlang seien - was für eine Überraschung im Metalbereich, wo zehnminütige Opeth-Werke als üblich gelten. Schnell eilte ich auf metal.de und erfuhr in durchaus guter Rezension, dass das Album durchwachsen sei, dass es gute Songs gebe, die sich mit schlechteren abwechselten. Ähem.

Last.fm nervte mich mit dämlicher Metallica-Flackerwerbung. Im Plattenladen meines Vertrauens lief ich gedankenlos an den neuen Metallica-CDs vorbei. Auf Spreeblick wurden Konzertkarten verlost, und ich stellte fest, dass ich selbst dann zögern würde, zum Metallica-Konzert zu gehen, hätte ich Karten für einen Auftritt hier an meinem Wohnort ungefragt geschenkt bekommen.

Mein Bruder rief an. Er hatte das Werk bereits erworben und für ziemlich gut befunden. Ich stutzte. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, geht doch sein Musikgeschmack mit meinem zu nicht geringen Teilen konform. Wenn er also sagte, "Death Magnetic" sei empfehlenswert, dann war davon auszugehen, dass ich es mögen könnte. Ich könnte ja mal reinhören, überlegte ich, doch schüttelte dann mit dem Kopf. Metallica ist schließlich scheiße.

Sonntag, 14. September 2008

...

Ich stand still, wie so oft. Alle Wege schienen vor meinen Füßen zu bersten, und es spielte keine Rolle, in welche Richtung ich mich begab. Die Suche hatte ich vor Äonen unter einem Berg des Lächelns begraben, denn auch sie spielte keine Rolle. Glaubte ich.

Wie leicht es fällt, sich auszugraben, denke ich, kurz nachdem ich dem Finden begegnete, kurz nachdem es mich überraschte, auf falschem Fuß erwischte. Nicht jetzt, will ich noch rufen, doch ist es zu spät. Ich lächle bereits.

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